Seit einiger Zeit mag ich gar keine Nachrichten mehr schauen. Gut, ich informiere mich durch die Lektüre einer überregionalen Tageszeitung, aber dieses Gefühl, am liebsten die Augen zu verschließen vor all den unerfreulichen Nachrichten, das ist bei mir schon stark. Der Advent ruft aber gerade dazu auf, die Augen zu öffnen! Wachsamkeit, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit: Aufwachen aus dem Schlaf der vermeintlichen Sicherheit, das sind die zentralen Worte und Themen im Advent. – Wie aber kann ich wachsam und achtsam leben, zumindest wachsamer und achtsamer? Wen sollte ich liebevoll in den Blick nehmen, wer fällt mir immer wieder aus dem Raster, wer wird auch von anderen leicht übersehen, in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, der Gemeinde? Wo nehme ich Ungerechtigkeit, auch strukturelle Ungerechtigkeit wahr? Was kann ich dagegen tun, vielleicht gemeinsam mit anderen, vielleicht im Zweigverein, verbunden mit anderen Frauen? Gewalt gegen Frauen etwa ist ein erschreckend großes Thema, auch hierzulande. – Aufwachen, und eben nicht sich Wegducken, die Decke über den Kopf ziehen und „den lieben Gott einen guten Mann sein lassen“ – darum geht es im Advent. Ja, liebevolle Wachsamkeit ist zweifellos das ureigenste Thema des Advents und vielleicht des Lebens aus dem Glauben überhaupt.
Ich hab den Gedanken dieses Blogbeitrags eine Weile mit mir herumgetragen und auch etwas gezögert, weil ich weiß, wie viel Aggression dem Wort „woke“ – „erwacht“ entgegenschlägt. „Woke“ ist ein englisches Wort und bedeutet so viel wie „aufgewacht, wach, aufmerksam, wachsam“. In Amerika ist dieser Begriff schon lange zur Hassvokabel der Rechten aufgestiegen. Auch hier in Deutschland ist es nicht viel anders, und nicht wenige Gruppierungen fühlen sich nun, nach der Wahl Trumps zum amerikanischen Präsidenten, darin bestärkt, die vermeintlich böse „Wokeness“ – „Wachsamkeit, Achtsamkeit“ aggressiv zu bekämpfen. Was aber ist so böse, so verwerflich an dieser zutiefst biblisch fundierten Wachsamkeit?
Vielleicht geht es Ihnen wie mir und es steigt eine Fülle biblischer Assoziationen auf, wenn ich über „Wachsamkeit“ nachdenke. Noch klingen mir die Worte des Evangeliums des ersten Adventssonntags im Ohr, wo es ganz zentral um ein waches Bewusstsein geht: Die bedrohlichen Zeichen erkennen, aber nicht in Angst erstarren, sondern sich aufrichten: „dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter“. Auch die kommenden Lesungen und Evangelien im Advent beschwören uns, endlich aufzuwachen aus dem Schlaf vermeintlicher Sicherheit; die klugen, nämlich wachsamen, planvoll und umsichtig vorgehenden Jungfrauen sind ein wunderbares Beispiel. – Johannes der Täufer wiederum, war eine exemplarische, zutiefst beeindruckende Gestalt mit einem erwachten Bewusstsein für Ungerechtigkeit. Seine Predigt war höchst unbequem für die Mächtigen, für die, die wollten, dass ihre Privilegien erhalten bleiben, dass alles beim Alten bleibt. Johannes setzte sich für ein neues Bewusstsein gegenüber Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch, Ausgrenzung und Benachteiligung ein, und er wollte genau dieses Bewusstsein bei seinen Mitmenschen schärfen. Der Täufer kritisierte die Herrschenden, die Satten und Reichen, die ihre Macht seit jeher für eigene Zwecke nutzen. Das weckt – damals wie heute – Widerstand, ja Hass. Für Johannes ist seine aufrüttelnde, seine Zeitgenossen aufweckende Predigt übel ausgegangen, denn er hat schließlich mit seinem Kopf für das bezahlt, was er mit wachem, erwachtem Bewusstsein als richtig erkannt hat.
Ja, prophetische Rede, unbequeme Wachsamkeit stören immer, damals wie heute. Menschen, die andere aufrütteln und aufwecken wollen, die das vermeintlich gute Recht, so weiterzuleben wie immer, in Frage stellen, werden abgelehnt, Opfer von Hass und Hetze. Jesus selbst aber hat so gelebt. Er hat die Menschen aus dem Schlaf der Sicherheit zu wecken versucht. Die Botschaft der Wachsamkeit und der Achtsamkeit, der geforderte neue Umgang mit den Kleinen, Geduckten, Kranken, mit denen, die unter die Räuber gefallen sind, das ist der Kern der Botschaft Jesu – eben weil das Gottesreich schon unter uns wächst.
Das Adjektiv „woke“ ist wohl rettungslos verbrannt, verloren; die Diffamierung des Begriffs war erfolgreich, er weckt bei den meisten nurmehr negative Assoziationen. Doch der biblische Aufruf zur Wachsamkeit, die unbequemen, vor allem aber befreienden Inhalte der Botschaft Jesu, sie bleiben in der Welt. Bleiben wir, werden wir wachsam – Wachsein aber bedeutet, in Berührung bleiben mit Christus. Auch und gerade im Advent.
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Vielen Dank, liebe Frau Sandherr-Klemp, für diesen Beitrag! Es ärgert mich auch sehr, wie negativ das Wort „woke“ inzwischen besetzt ist. Erst gestern habe ich bei der Berichterstattung über die Vorstellung eines Parteiprogramms mitbekommen, dass sich konservative Politiker von „woke“ aufs Schärfste distanzieren. Dabei würde es auch konservativen Politikern nicht schaden, wachsam zu sein.