Ich mache mich auf den Weg, im schicken Sommerkleid, weiß mit bunten Rauten und hohen, schwarzen Sandalen. Es ist Jahre her, dass ich diese Schuhe getragen habe, aber es klappt, ich kann noch darin laufen. Sogar die Fußnägel habe ich mir lackiert, nicht auffallend, nur leicht rosa. Das mache ich nur im Sommer. Jetzt ist es Sommer. Und es ist ein guter Sommertag heute!
Die Stadt ist mir fremd, auch die große, kühle Festhalle. Die Menschen sind mir fremd. Von ein paar wenigen Freunden meines Sohnes kenne ich die Namen; heute lasse ich mir von ihm die Gesichter dazu zeigen. Auf den ersten Blick alles nette Jungs, schwarze Hose, weißes Hemd, viele sind groß und sportlich. Sie alle haben in diesem Jahr das Abitur gemacht und er mittendrin; heute Nachmittag ist Zeugnisübergabe. Er hat sich gewünscht, dass ich dabei bin.
Normalerweise ist das die Rolle der Väter, wenn die Kinder nach der Trennung bei der Mutter bleiben: die Rolle des Besuchers, des Fremden an diesem Tag. Der nur in Ausschnitten erlebt hat, wie sein Kind aufwächst, mit welchen Freunden es um die Häuser zieht, wie es mit der Schule hadert und in welcher Nacht es den ersten Rausch nach Hause gebracht hat. Heute bin ich die Fremde, stellvertretend für viele Väter.
Ich habe ihn gehen lassen damals. Und habe seine Entscheidung akzeptiert. Wenn ich an seine Worte denke, dann bewegt mich das noch heute. Da stand ein 11-jähriger vor mir und sagte, es sei unfair, wenn alle drei Kinder bei mir wären und keines bei Papa. Und er sagte es ruhig und überlegt, mit seinem großen Gerechtigkeits-Herzen. Ich konnte gar nicht anders, als ihn gehen lassen. Mit großer Achtung vor diesem kleinen Jungen – und mit Gottvertrauen.
Vielleicht war es das Gottvertrauen, das uns beide durch die Jahre getragen hat. Auch wenn ich nicht ganz genau definieren kann, was Gottvertrauen eigentlich ist. Aber so könnte es sich anfühlen, loslassen können und gewiss zu sein: es wird Menschen auf seinem Weg geben, die ihn finden und ihn begleiten werden.
Als Leistungsfach in seinem Abitur hat mein Sohn Religion gewählt. Der Religionslehrer war gleichzeitig zwei Jahre lang sein Tutor. Zum Ende dieses Sommernachmittags steht der ganze Reli-Kurs nun auf der Bühne in der kühlen Festhalle, der Tutor überreicht jedem sein Zeugnis. Später, beim Empfang, wird er noch einmal zu jedem seiner Schüler und deren Eltern hingehen, dem Schüler auf die Schulter klopfen und mit den Eltern anstoßen. Die Laudatio des Kurses für ihren Lehrer ist bemerkenswert: Er war immer da, er hat sie in allen Lebenslagen motiviert. Auf seine Unterrichtstunden hat man sich gefreut, obwohl sie am Nachmittag lagen. Er hat sie zu sich nach Hause eingeladen und ihnen beigebracht, wie man von Hand schwäbische Spätzle schabt. Während Corona hat er nicht nur Kopien ausgeteilt, er hat persönliche Mails verschickt mit schönen Texten, er hat Briefe in ihre Briefkästen geworfen. Sie haben ihn als Vorbild bezeichnet und ihn ihren „Alltagshelden“ genannt.
Ich bin mir sicher: dieser Lehrer ist einer jener Menschen, die meinen Sohn auf seinem Weg gefunden und ein Stück begleitet haben. Von Herzen danke, sehr geehrter Tutor, stellvertretend und unbekannterweise.
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Mich berühren diese Zeilen sehr. Es ist immer schwer als Mutter, das eigene Kind mehr und mehr loszulassen, damit es eigene Wege gehen kann. Umso schwerer muss es sein, wenn das Kind schon so früh wegzieht, auch wenn ich große Achtung vor dieser Entscheidung habe. Die Beschreibung, was Gottvertrauen in dieser Situation bedeutet, ist sehr eindrücklich.
Der Text gefällt mir sehr gut, das Foto finde ich allerdings unpassend. Die Schule ist ein wichtiger, schwieriger, guter, belastender, auf jeden Fall aber Teil des Lebens von Kindern und Jugendlichen. Das haben wir gerade während der Coronapandemie gemerkt. Mein Vorschlag darum: „Leben“ durch „Zukunft“ oder durch „…“ ersetzen, als Zeichen für das Offene, Spannende, Unbekannte, das nach dem Abitur kommt.